"Frühgereift und zart und traurig..."
Die Seelenlandschaft der Jahrhundertwende

Ariel Lang und Birgit Feierl lesen aus dem Briefwechsel zwischen Adele Sandrock und Arthur Schnitzler

Freitag, 4. Februar 2000, 20.15 Uhr
Gasthof Gams, Bezau

Arthur Schnitzler (1862-1931) hat wie kein anderer Dichter seiner Zeit die Stimmungen im Wien des Fin des siecle festgehalten und so eine zuverlässige und reiche Topographie der Wiener Seelenverfassung um 1900 geschaffen. 1893 lernt er die karrierebewusste Schauspielerin Adele Sandrock kennen, zwei Jahre lang sind die beiden ein Liebespaar. Welche Schattierungen der Gefühle ihre Beziehung durchlebt, zeigt ihr Briefwechsel: die Beziehung ist beherrscht von Launen, geprägt von einem beständigen Wechsel der Einstellungen, man lebt von Augenblick zu Augenblick und gibt nur, um selbst zu nehmen. Neben dem Briefwechsel und den Tagebucheintragungen des Dichters, werden auch Auszüge aus jenen Werken zum Vortrag gebracht, in denen Schnitzler seineBeziehung mit "Dilly" thematisiert - es sind dies "Halbzwei", eine Szene aus dem "Reigen" sowie "Haus Delorme". Die Lesung bietet einen vergnüglichen und spannenden Einblick in das Seelenleben Schnitzlers und Sandrocks und die überaus komplizierte Beziehung zwischen den beiden eigensinnigen, sensiblen doch arroganten Künstlernaturen. Brisant wirken die Texte auch deshalb, weil der Dichter Schnitzler nur schreibt, was der Überprüfung durch die eigene Erfahrung standhält.

Die treffende gesellschaftliche Analyse der Seelenlandschaft der damaligen Jahrhundertwende entspringt seiner subjektiven Aufrichtigkeit.


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Arthur Schnitzler. Foto, 1908.

© Copyright by Verlag Christian Brandstätter, Wien.

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"Ich verstehe dich nicht,
du verstehst mich nicht,
wir verstehen uns nicht - die alte Liebesconjugation."
(Arthur Schnitzler an Adele Sandrock, 23. Jänner 1894)

Dr. med. Arthur Schnitzler (1862-1931) hat zeit seines Lebens in Wien gelebt. Unter dem Eindruck der Aktivitäten der Schriftsteller-Vereinigung "Jung Wien", die hervorgegangen ist aus der spezifisch Wienerischen Kaffeehaus - Kultur, wird Schnitzler zum umjubelten und gleichermaßen verpönten Dramatiker, Erzähler, Lyriker und Essayist. Er hat wie kein anderer "das Wien des Fin de siecle eingefangen" und eine zuverlässige und reiche "Topographie der Wiener Seelenverfassung um 1900 geschaffen" (Egon Friedell). 1893 lernt Arthur Schnitzler die attraktive und selbstbewußte Schauspielerin Adele Sandrock kennen, zwei Jahre lang sind die beiden ein Liebespaar. Welche Schattierungen der Gefühle sie durchleben, zeigt ihr Briefwechsel von 1893 bis 1895: die Beziehung ist beherrscht von Launen, geprägt von einem beständigen Wechsel der Einstellungen, man lebt von Augenblick zu Augenblick und gibt nur, um selbst zu nehmen. 1894 verfaßt Schnitzler - zeitgleich mit der Bekanntschaft zu "Dilly" - die beiden Einakter "Die überspannte Person" und "Halbzwei", in denen es sowohl um Arroganz als auch Biederkeit der Liebenden geht.

Arthur Schnitzler an Adele Sandrock
[22.5. 1894]
Dienstag Abend

 

Meine liebe Dilly! -

Du hast mir eine Menge unangenehmer Dinge gesagt - bist endlich auf und davon gegangen - und hast als Abschiedswort nur ein zärtliches "Schau, daß du weiterkommst" gefunden -

- Und was für ein Verbrechen hab ich begangen?? Ich habe mich - deiner Meinung nach, während eines Meistersingeraktes nicht oft genug zu dir umgedreht, - du wirst vielleicht, ruhiger geworden, selber zugestehen müssen, daß das über den Spaß geht. "Launenhaftigkeit" ist dafür ein zu mildes Wort, "Ungerechtigkeit" ist auch zu mild. - Solche Dinge sind doch im Grund recht überflüssig. Du solltest doch wohl schon wissen, daß sich meine Liebe zu dir nicht darin ausdrückt, daß ich für irgendein Kunstwerk plötzlich das Interesse verliere. Daß du im Theater warst, hat mich den ersten Akt mit mehr Genuß anhören lassen; - das ist meine Art von Liebe. - Es ist keine schlechte Art.- Ich war wüthend über dich, ich kann´s nicht läugnen. - Aber dann, im Laufe der nächsten zwei Akte, bin ich viel ruhiger geworden, und drum brauche ich dir nichts von all dem unhöflichen zu schreiben, zu dem ich heute wohl berechtigt wäre. - Maßlos, maßlos ungerecht bist du, und launenhaft wie du es gegen mich nicht sein darfst, und sei auch nur, weil ichs nicht vertrage.-

Hochachtungsvoll ergebenst

Euer Arthur

  

Den Inhalt der Lesung - vorgetragen von Ariel Lang und Birgit Feierl - bildet eine Collage, bestehend aus Tagebucheintragungen Schnitzlers, dem Briefwechsel mit "der Sandrock" und den genannten Einaktern. Die Texte bieten einen vergnüglichen und spannenden Einblick in das Seelenleben Schnitzlers und Sandrocks, zweier eigensinniger Künstlernaturen und deren überaus komplizierte Beziehung zueinander, die charakteristisch ist für die damalige Jahrhundertwende. Die autobiographischen Verweise sind deshalb sehr entscheidend, weil Schnitzler es "selbst auf Kosten künstlerischer Geschlossenheit nicht fertigbringt, etwas zu schreiben, was der Überprüfung durch die eigene Erfahrung nicht standhielt. Die treffende gesellschaftliche Analyse entspringt in der subjektiven Aufrichtigkeit."

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Tagebucheintragungen Arthur Schnitzler

9.Jänner 1894: "Mittag und Abd. bei D.[illy]. - Fühle meine Autoreneitelkeit. Habe das Bedürfnis, dass D.[illy] von meinen Werken spricht.-..."

10. Jänner 1894: "Brief von D.[illy].- Nachmittag plötzlich in Stimmung.- Pläne reihten sich plötzlich, so zu 2 Einaktern.- Freudig.- Bei D.[illy] wieder erst um 1/2 2 ins Bett; bei ihr bis 6 früh.- Ach, und es macht mir eigentlich so wenig Vergnügen! Und ich lüge Liebe und weiss Gott was alles, - um was aus ihr herauszubringen, aber ihr Verständnis für mich ist mit ihrer Sinnlichkeit und ihrer Ahnung, daß ich ihr noch eine Rolle schreiben werde, abgeschlossen.- Ungerecht! Sie ist gescheidt und hat interessante Momente und scheint sich zuweilen auch für was andres zu interessiren.- Allerdings nützt sie alles für ihre Sinnlichkeit aus, z.B. mein Klavierspiel; die Musik.- "

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"Wenn zwei Menschen
einander bis ins Tiefste
verstehen wollen, so ist das geradeso,
wie wenn zwei einander gegenübergestellte Spiegel
sich ihre eigenen Bilder
immer wieder und von immer weiter her
wie in verzweifelter Neugier entgegenwerfen,
bis sie sich endlich
im Grauen einer hoffnungslosen Ferne verlieren."
(Arthur Schnitzler)

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"Die Seele mancher Menschen scheint aus einzelnen
gewissermaßen flottierenden Elementen zu bestehen,
die sich niemals um ein Zentrum gruppieren,
also auch keine Einheit zu bilden imstande sind.
So lebt der kernlose Mensch
in einer ungeheuren und doch niemals völlig zu Bewußtsein kommenden Einsamkeit dahin.
Die große Mehrzahl der Menschen ist in diesem Sinne kernlos."
(Arthur Schnitzler über die "moderne Seele").

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http://www.oeaw.ac.at/litgeb/Schnitzfre.html

http://www.cwru.edu/artsci/modlang/german380/schnitzler.html

 

programm kulturforum 1999